Bild von Stühlen und Tisch vor Container in Glattbrugg.

Das Rückkehrzentrum Rohr in Kloten befindet sich nahe dem Terminal 3 beim Flughafen Zürich. © Liza Mia Stoll

Reguläre Illegalität – ein Leben im Ungewissen

Wer einen negativen Asylentscheid erhält und die Schweiz nicht verlassen kann, lebt in der regulären Illegalität. Doch was bedeutet das? Eine Reportage.

Von Sara Spreiter, Liza Mia Stoll, Sandro Huber und Philip Vornholt, 15.12.2022

 28 Minuten

Das gleiche Thema, nur kürzer

13 Tage auf dem Mittelmeer und sieben davon ohne Wasser. Dieser Teil von Akils Geschichte hat sich bei uns während der Recherche besonders stark eingeprägt. Akil möchte anonym bleiben, seinen Namen haben wir geändert. In Chur ist es ein sonniger Sonntagnachmittag. Wir sitzen in Akils Einzimmerwohnung, in der er uns von seiner Flucht in die Schweiz erzählt. Es ist schon einige Jahre her, seit er über das Mittelmeer in die Schweiz gelangte. Akil ist heute Anfang 20 und flüchtete als Jugendlicher von Somalia in die Schweiz. Und das ohne seine Familie. Mit dem Boot überquerte er von Ägypten das Mittelmeer bis nach Italien, von dort aus kam er in die Schweiz. Hätte er ein Boot früher genommen, würde er heute nicht mehr vor uns sitzen, erzählt er uns.

«Ich ging in die Stadt und traf zwei meiner Kollegen. Wir haben gesagt, wir gehen heute. Schon vorher haben wir beschlossen, zusammen auf das Boot zu gehen. Als wir an diesem Tag gehen wollten, sagte ich zu meinen Kollegen, dass ich doch nicht käme, weil ich noch auf jemand anderen warten wollte. Diese beiden Kollegen sind auf dem Boot gestorben. Sie sagten mir, dass wir gehen sollten und ich wollte nicht, weil ich auf jemand anderen gewartet habe.»

Von Somalia bis in die Schweiz, Akil legte einige tausende Kilometer zurück.

6’000 km: Von der Somalischen Hauptstadt Mogadischu quer durch die Sahelzone, übers Mittelmeer nach Italien bis ins Flüeli in Valzeina.

Nach dieser lebensgefährlichen Route kam er in der Schweiz an. Ein Land, das man als sicher bezeichnen kann. Doch die darauffolgenden Monate und Jahre waren und sind noch immer von vielen Unsicherheiten geprägt. Akils Asylverfahren begann und erwies sich als sehr langwierig.

Situation in Somalia

Die Lage in Somalia ist noch immer angespannt. Seit 2012 gibt es in Mogadischu zwar wieder eine international anerkannte, föderale Regierung, diese kann jedoch die Staatsgewalt nur in wenigen Gebieten ausüben. Immer wieder gibt es gewaltsame Auseinandersetzungen zwischen Regierung und Armee mit der Terrorgruppe Al-Shabbab. In ganz Somalia besteht zudem ein hohes Risiko von Terroranschlägen. Gerade Ende Oktober 2022 wurden bei Explosionen in der somalischen Hauptstadt Mogadischu mindestens 100 Menschen getötet und 300 weitere verletzt. Zudem leidet Somalia aktuell an der schlimmsten Dürre seit Jahren. Laut SRF sind zwei Distrikte in Somalia von einer unmittelbaren Hungersnot bedroht.

Bis vor einigen Monaten hatte Akil noch den Status eines regulären Illegalen. Ein Mensch, der am Rande unserer Gesellschaft lebt und weder hier noch in seinem Heimatland zu Hause ist. 

Reguläre Illegale dürfen grundsätzlich nicht in der Schweiz bleiben und sind in einer existenziellen Notlage. Laut der Schweizerischen Flüchtlingshilfe (SFH) können dafür folgende Gründe vorliegen: Dem Asylsuchenden liegt ein rechtskräftiger Nichteintretensentscheid und eine Wegweisung vor. Möglich ist auch, dass ein Asylgesuch abgelehnt wurde und eine Wegweisung vorliegt. Dies war bei Akil der Fall. Auch betroffen sind Personen, deren vorläufige Aufnahme aufgehoben wurde oder die das Bleiberecht nach Ausländerrecht verloren haben. Zudem gehören auch die sogenannten Dublin-Fälle, also Personen, die bereits in einem anderen Dublin-Staat ein Asylgesuch gestellt haben, zu dieser Personengruppe.

Asylrechtliche Ausweise

N-Ausweis
Asylsuchende
Für Personen, die in der Schweiz ein Asylgesuch gestellt haben und im Asylverfahren stehen.

Teilweise abgewiesene Asylsuchende
Für Personen mit einem negativen Asylgesuch und einer Wegweisun sieht die Gesetzgebung kein Ausweispapier vor. In einigen Kantonen können abgewiesene Asylsuchende aber den N-Ausweis behalten oder erhalten ein provisorisches Ausweispapier.

B-Ausweis
Anerkannte Flüchtlinge (Asylgewährung)
Wenn eine Person glaubhaft dargelegt hat, dass sie im Herkunftsstaat in asylrechtlich relevanter Weise gemäss der Genfer Flüchtlingskonvention verfolgt ist, wird sie als Flüchtling anerkannt und erhält Asyl.

F-Ausweis
Anerkannte Flüchtlinge (vorläufige Aufnahme als Flüchtling)
Für Personen mit einem abgelehnten Asylgesuch, bei welchen jedoch Wegweisung aus völkerrechtlichen Gründen unzulässig ist (keine Ausschaffung bei Verfolgungsgefahr). Der Vollzug der Wegweisung ist aufgeschoben und die Person wird als Flüchtling vorläufig in der Schweiz aufgenommen.

Vorläufig aufgenommene Ausländerinnen und Ausländer

Für Personen, die nicht in asylrelevanter Weise verfolgt werden und nicht als Flüchtlinge gelten und ein negatives Asylgesuch haben. Wenn das SEM in einem zweiten Schritt zum Schluss kommt, dass eine Rückkehr in den Herkunftsstaat unzulässig, unzumutbar oder unmöglich ist z.B. weil dort Krieg herrscht und deshalb die Wegweisung nicht vollzogen werden darf, ordnet das SEM die vorläufige Aufnahme an.

S-Ausweis
Schutzbedürftige
Der Status wurde eingeführt, um bei Massenfluchtsituationen reagieren zu können. Der Bundesrat hat ihn erstmals für Geflüchtete aus der Ukraine aktiviert. Der Ausweis berechtigt zum vorläufigen Aufenthalt in der Schweiz.

Akil hatte zwei dieser Negativentscheide und galt deshalb als regulärer Illegaler. Reguläre Illegale werden entweder in Asylzentren oder in sogenannten Rückkehrzentren (auch Ausreise- oder Nothilfezentren genannt) untergebracht. Teilweise wohnen sie auch in Containersiedlungen, Privathaushalten oder Kollektivunterkünften. Dies ist von Kanton zu Kanton anders geregelt. Die reguläre Illegalität ist ein Widerspruch in sich selbst, weil die Betroffenen laut Bundesverfassung Anrecht auf Nothilfe haben, gleichzeitig aber immer noch illegal in der Schweiz sind. Auch Akil bekam diese Konsequenzen zu spüren:

«Sie sagten zu mir, dass ich keine Bewilligung hätte und ich nicht in einen anderen Kanton kommen dürfe. Ich solle in Graubünden bleiben. Als ich in einer Bar in eine Polizeikontrolle kam, hatte ich keinen Ausweis. Die Polizei sagte mir, ich solle nicht nach Chur kommen – sondern in Valzeina bleiben.»

Was ist die Nothilfe?

Laut dem Artikel 12 der Bundesverfassung hat jede Person, die in Not gerät und nicht in der Lage ist, für sich zu sorgen, Anspruch auf Nothilfe. Das heisst auf alle Mittel, die es für ein menschenwürdiges Dasein benötigt. Dazu gehören unter anderem Nahrung, Kleidung und eine Unterkunft. Zudem sind nothilfeberechtigte Personen bis zur Ausreise aus der Schweiz obligatorisch krankenversichert und haben Zugang zu allen medizinischen Pflichtleistungen des Krankenversicherungsgesetzes. Zuständig für die Nothilfe sind die Kantone. Um die Nothilfe zu erhalten, müssen Personen ohne Aufenthaltsbewilligung beim Kanton einen Antrag stellen.

Reguläre Illegale können beispielsweise von der Polizei gebüsst oder inhaftiert werden, weil sie sich aufgrund ihrer Illegalität meistens nicht ausweisen können. Eine solche Inhaftierung kann bis zu drei Monaten dauern. 

Doch warum gehen die Personen trotz Wegweisung nicht in ihr Heimatland zurück? Viele können nicht zurück in ihr Heimatland – selbst wenn sie wollten. Laut Amnesty International kann dies sein, weil sie keine heimatlichen Reisepapiere erhalten können, aufgrund gesundheitlicher Probleme, fehlender Rücknahmeübereinkommen, weil der Zielstaat bei einer Ausschaffung ihre Aufnahme verweigern würde oder weil sie Menschenrechtsverletzungen im Heimatland befürchten, die aber nicht zur Gewährung eines Schutzstatus ausgereicht haben.

Akil wohnte damals im Ausreisezentrum Flüeli im Bündner Bergdorf Valzeina. Er erzählt von dieser Zeit im Flüeli:

«Ich verbrachte viel Zeit in Valzeina. Armin, der Zentrumsleiter, fragte mich, was ich immer zu Hause mache. Warum sollte ich nach Chur? Ich hatte kein Geld, um mir etwas zu kaufen und ich hatte kein Billett. Was soll ich machen? Dann ist es besser, im Zimmer zu bleiben und zu schlafen. Ich erinnere mich: Ein Jahr lang ging ich nicht nach unten. Ich ging nur in die Küche, um zu essen und dann wieder hoch in mein Zimmer.»

Für reguläre Illegale herrscht in der Regel striktes Arbeitsverbot, es gibt aber kantonale Unterschiede. Auch die Nothilfe unterscheidet sich von Kanton zu Kanton. In einigen Kantonen bekommen die Nothilfebezüger*innen zwischen acht und zwölf Franken täglich. Akil bekam gar kein Geld, wie üblich im Kanton Graubünden. Die Nothilfe besteht hier nicht aus Geld, sondern in Form von Lebensmitteln. Dazu haben reguläre Illegale auch ein Recht auf medizinische Grundversorgung.

Abgeschottet im Ausreisezentrum Flüeli

Bild vom Ausreisezentrum Flüeli inmitten der Bündner Berglandschaft.

Das Ausreisezentrum Flüeli befindet sich in der grünen idyllischen Berglandschaft nahe dem Bündner Dorf Valzeina. © Sara Spreiter

Viel Grün und eine idyllische Berglandschaft – die Umgebung um das Flüeli gleicht einem Postkartenfoto. Wunderschön, unter der Voraussetzung, dass man hier leben möchte. Für Akil war es ein Muss –  und das drei Jahre lang. Die Bewohner*innen des Flüeli sind hier komplett abgeschottet, weit weg von der Gesellschaft. Nicht unüblich für ein Rückkehrzentrum. Normalerweise ist es für Medien beinahe unmöglich, Zutritt zu einem solchen Zentrum zu erhalten. Umso überraschter sind wir darüber, wie aufgeschlossen Armin Bühler, Zentrumsleiter des Flüeli, uns gegenüber ist. 

In Bühlers Büro hängen Fotos aus seiner Zeit als Polizist bei der Stadtpolizei Zürich. Nun ist er mehrere Tage die Woche mit den Bewohner*innen des Flüeli beschäftigt. Er versucht, die Bewohner*innen so gut es geht zu unterstützen. Einfluss auf einzelne Verfahrensentscheide des Kantons oder des Bundes habe er aber nicht. Auch nicht, wenn es um ein Härtefallgesuch geht. Ein solches kann nach fünf Jahren Aufenthaltsdauer in der Schweiz beantragt werden. Wenn es positiv ausfällt, erhalten die Beantragenden eine Aufenthaltsbewilligung. Das sei die grösste Motivation, im Zentrum zu bleiben und nicht unterzutauchen, erklärt Bühler. Er steht dem Prozess für das Härtefallgesuch kritisch gegenüber. «Um ein Härtefallgesuch zu beantragen, müssen die Asylsuchenden ein sauberes Strafregister haben und in Deutsch das Niveau A2 erreichen. Während der Zeit im Flüeli können die Bewohner*innen aber meistens keinen Deutschkurs besuchen. Um einen positiven Härtefallentscheid zu erhalten, muss auch schon ein unterschriebener Arbeitsvertrag vorliegen. Wer stellt jemanden ein, der nicht einmal Probearbeiten kommen darf, weil ein Arbeitsverbot gilt?», sagt Bühler kopfschüttelnd.

Laut dem Staatssekretariat für Migration (SEM) haben abgewiesene Asylsuchende die Pflicht, die Schweiz zu verlassen, weshalb die geltende Rechtsordnung keine Massnahmen vorsehe, die Integration zu erleichtern. Das SEM verweist jedoch auf ein mögliches Härtefallgesuch. Bei Härtefällen gäbe es kein starr vorgeschriebenes Sprachniveau. In der Regel verlangten die kantonalen Behörden das Niveau A1 oder A2, wobei es aber auch Ausnahmefälle gäbe. Dazu würden verschiedene Anbieter und Organisationen Sprachkurse anbieten, die für die regulären Illegalen einfach zugänglich seien. In der Praxis zeige sich, dass  fortgeschrittene integrierte Personen das Niveau A2 oder sogar höher erreichen. Bei abgewiesenen Asylbewerbern werde keine bestehende Integration in den Arbeitsmarkt verlangt, sondern die Teilnahme am Wirtschaftsleben müsse wahrscheinlich erscheinen. Etwa durch eine Stellenzusicherung unter dem Vorbehalt, eine Aufenthaltsbewilligung zu erhalten.

Bild von unordentlichen Zimmer im Ausreisezentrum Flüeli.

Die Bewohner*innen des Flüeli verbringen viel Zeit in ihrem Zimmer. © Liza Mia Stoll

Laut Bühler, sei der Alltag für die Bewohner*innen schwierig. Die Eintönigkeit und Ungewissheit, wann sie in ihr Heimatland zurück müssen, sei psychisch sehr belastend. Der Zentrumsleiter bezeichnet das Leben im Zentrum als trostlos. Trotzdem betont er, dass die Bewohner*innen im Flüeli immerhin genügend Essen und eine Gesundheitsversorgung haben. Diese Dinge sind in ihren Heimatländern teilweise nicht gewährleistet.

Die Besuche ins Dorf seien mit vielen Unannehmlichkeiten verbunden.
«Das Dorf ist sehr gespalten gegenüber dem Flüeli. Die einen sind dafür und die anderen stark dagegen. Es gibt fast nichts dazwischen», erzählt Bühler. Es habe Forderungen gegeben, dass es für die Flüeli-Bewohner*innen separate Busse geben soll, damit sie die Schulkinder nicht «gefährden». Als das Bündner Zentrum eröffnet wurde, versprach man der Gemeinde, dass keine Kinder vom Flüeli im Dorf in die Schule gehen. Wohnen schulpflichtige Kinder im Zentrum, ziehen diese mit ihrer Familie in ein Asylzentrum um. Die Schulpflicht steht über der Illegalität. Alle Kinder im schulpflichtigen Alter müssen gemäss der Schweizer Bundesverfassung Zugang zu einer unentgeltlichen Grundbildung erhalten.

Es gibt aber auch den Verein Miteinander Valzeina (VMV), der die Bewohner*innen im Flüeli unterstützt und ihnen den Aufenthalt erleichtern möchte. Zum Beispiel organisiert der Verein Kaffee-Treffen und andere Gemeinschaftsaktivitäten.

Bühler erlebt die Hochs und Tiefs der Bewohnerinnen hautnah mit. Für ihn sei es ein grosses Anliegen, gut mit den Bewohner*innen auszukommen. «Ich möchte am Abend in den Spiegel schauen und mir sicher sein, einen guten Job zu machen. Vielleicht wird man in einigen Jahren über diese Zentren sagen, dass es kompletter Nonsens war, Menschen nicht arbeiten zu lassen.»

In Graubünden kommt es laut Bühler zu etwa einer Rückführung im Monat. Für die, die bei der Rückführung keinen Widerstand leisten und keine Zwangsausschaffung durchgeführt werden muss, gebe es in der Regel eine finanzielle Starthilfe. Laut Hubert Gadient vom Amt für Migration und Zivilrecht Graubünden hängt die Beitragshöhe von Herkunft und Situation im Heimatland ab. Je besser die Abgewiesenen bei der Rückführung mitmachen, desto höher die Wahrscheinlichkeit, dass sie die finanzielle Starthilfe erhalten. Wenn sich jemand über mehrere Jahre weigert, ins eigene Land zurückzukehren, schrumpfe der Betrag. Dies habe damit zu tun, dass die Person über mehrere Jahre von der Schweizer Sozialhilfe finanziert werde. Die abgewiesenen Personen müssen für die Starthilfe oftmals einen Projektvorschlag machen, in was sie das Geld in ihrem Land investieren. Dies kann zum Beispiel ein Taxiunternehmen sein. Dieser Projektvorschlag wird von der Internationalen Organisation für Migration (IOM) geprüft und anschliessend genehmigt oder abgelehnt. Es kann auch sein, dass die IOM eine andere Projektidee vorschlägt, weil es beispielsweise bereits zu viele Taxis in der Heimatstadt gibt. Die IOM in Bern arbeitet mit dem Staatssekretariat für Migration (SEM) zusammen. Das SEM entscheidet schliesslich auch, wie viel die Starthilfe beträgt. Die Kantone haben die Möglichkeit, den vom SEM bewilligten Betrag leicht zu erhöhen. Diese finanzielle Starthilfe kann insgesamt, also vom Kanton und vom SEM zusammen, mehrere Tausend Franken betragen. Bühler meint dazu:

«Für die Schweiz ist es immer noch günstiger, jemandem eine Starthilfe zu geben, als wenn jemand für 20 Jahre hierbleibt.»

Für Akil hat sich das Blatt gewendet. Er muss nicht mehr darauf warten, irgendwann nach Somalia zurückgeschickt zu werden. Nach drei Jahren in Valzeina und über fünf Jahren in der Schweiz konnte er ein Härtefallgesuch stellen. Es wurde bewilligt und Akil erhielt eine B-Bewilligung. Er gilt nun also als anerkannter Flüchtling mit Asylgewährung, kann arbeiten und in seiner eigenen Wohnung wohnen. Es geht ihm besser.

«Heute ist es viel besser. Jetzt habe ich eine Arbeit und kann Dinge unternehmen, habe ein Programm. Ich denke, wenn in ein bis zwei Jahren mein Deutsch besser ist, dann kann ich eine Ausbildung machen.»

Auch wenn ihn seine Flucht und Zeit im Flüeli weiterhin begleiten werden, kann er jetzt an die Zukunft denken. Nun hat er etwas Selbstbestimmung zurückerhalten.

Menschenunwürdige Zustände

Das Ausreisezentrum Flüeli wird vom Kanton Graubünden geführt – nicht überall ist das die Regel. Jeder Kanton hat eine eigene Lösung für den Umgang mit abgewiesenen Asylsuchenden. In den Kantonen Zürich, Bern und Freiburg werden die Rückkehrzentren von der ORS Gruppe geführt. ORS steht für «Organisation for Refugee Services». Die ORS Gruppe ist ein profitorientiertes Dienstleistungsunternehmen, das alle Stufen des Aufenthalts von Asylsuchenden und Flüchtlingen übernimmt. Seit ihrer Gründung 1992 in Zürich hat die ORS immer weiter expandiert. Die ORS Gruppe ist gemäss ihrer Webseite momentan in fünf Ländern tätig: Deutschland, Österreich, Schweiz, Italien und Spanien.

Eines dieser Rückkehrzentren, welches von der ORS geführt wurde, war das Rückkehrzentrum Biel-Bözingen, welches im Sommer 2022 geschlossen wurde. Der Grund dafür war, dass der Kanton Bern und die Stadt Biel keine Einigung über die Fortführung des Zentrumbetriebs finden konnten. Der Kanton Bern hätte es gerne weiter betrieben, damit war die Stadt Biel aber nicht einverstanden – das Zentrum befinde sich in einer nicht dafür vorgesehenen Nutzungszone.

Das Zentrum Biel-Bözingen machte aber schon vor der Schliessung Schlagzeilen. Die Nationale Kommision zur Verhütung von Folter (NKVF) veröffentlichte am 10. Februar 2022 einen Bericht, der die Zustände in den Rückkehrzentren im Kanton Bern als menschenunwürdig einstufte. Das NKVF schreibt in ihrer Schlussfolgerung:

«Die ungenügende Infrastruktur, die engen Wohnverhältnisse sowie die fehlenden Rückzugs- und Spielmöglichkeiten für Kinder und Jugendliche tragen dazu bei, dass die Situation in […] Biel-Bözingen nach Ansicht der Kommission für Familien mit Kindern nicht menschenwürdig ist.»

Als Alternative zum Rückkehrzentrum Biel-Bözingen wurde im Januar 2022 das Rückkehrzentrum Enggistein in der Gemeinde Worb eröffnet. Das Berner Rückkehrzentrum Enggistein ist das erste, welches nur für Familien und Frauen konzipiert wurde. Im Juni 2022 wurde das Rückkehrzentrum erstmals den Medien gezeigt.

Temporäre Landidylle

Verregnete Landschaft in Worb.

In der Ferne ist das Rückkehrzentrum Enggistein zu erkennen. © Liza Mia Stoll

Regen und dunkle Wolken – es ist ein trüber Tag im 400-Seelen-Dorf Enggistein im Kanton Bern. Wir steigen aus dem Postauto aus und gehen fünf Minuten auf einem steinigen Landweg. Viele Autos folgen uns. Der Andrang ist gross – rund zwanzig  Medienschaffende sind vor Ort. Vor dem Eingang stehen einige Vertreter der ORS Gruppe. Alle Journalist*innen werden in den ehemaligen Gutshof gelassen und in einem Aufenthaltsraum von Sicherheitsdirektor und FDP-Regierungsrat Phillipe Müller begrüsst. Phillipe Müller, der zu Beginn ein bisschen angespannt wirkt, präsentiert kurz die Eckdaten zum neuen Rückkehrzentrum.

Nach der Begrüssung und einer Rede führt uns ein Angestellter der ORS Gruppe durch das Gebäude. Die Journalist*innen stellen viele Fragen, auch kritische. 

Der ORS Angestellte zeigt uns das Spielzimmer, in dem sich drei Kinder aufhalten. Gespielt wird hier heute nicht viel, die Kinder schauen verwundert die Fremden an. Die Gruppe wird weiter geführt, wir bleiben im Spielzimmer und sprechen mit den Kindern. In unserem kurzen Gespräch hören wir heraus, dass die Kinder von ihrem neuen Zuhause nicht sonderlich begeistert sind.

Ein paar Minuten später treffen wir dieselben Kinder wieder im Treppenhaus. Unser Gespräch von vorhin hat bei uns noch mehr Fragen aufgeworfen und uns neugierig gemacht. Eines der Mädchen bringt mich zu ihrer Mutter, der Rest von uns geht weiter. Die junge Frau öffnet die Türe ihres Zimmers einen Spalt breit und stellt sich als Mila vor. Zu ihrem Schutz haben wir den Namen der Frau geändert.

Die junge Mutter kommt aus Nordmazedonien und ist 25 Jahre alt. Sie ist seit fünf Jahren und ein paar Monaten in der Schweiz, das Rückkehrzentrum Enggistein ist ihre sechste Unterkunft. Wie viele andere im Zentrum, wurden die junge Mutter und ihre beiden Kinder zu Beginn der Osterferien von Biel-Bözingen nach Enggistein verlegt. Sie hat einen negativen Asylentscheid erhalten, legte aber Berufung ein, weil sie als Sinti und Roma in ihrem Heimatland von Antiziganismus betroffen ist. Dies ist die strukturelle Diskriminierung von Sinti und Roma. Zudem spreche ihre Tochter nur schweizerdeutsch und kein mazedonisch.

Als ich mit der Tochter im Spielzimmer gesprochen hatte, war ich überrascht, wie gut sie schweizerdeutsch schreiben und sprechen kann. Hätte ich nicht gewusst, dass sich das Mädchen illegalerweise im Land aufhält und ausgeschafft werden soll, wäre ich nie darauf gekommen.

Während Mila ihren Namen in mein Notizbuch schreibt, wird unser Gespräch abrupt von einem Angestellten der ORS Gruppe unterbrochen. Der Mann weist mich sehr bestimmt darauf hin, dass ich wieder zurück zur Gruppe gehen müsse. Er begleitet mich bis dorthin, kurz darauf endet unser Rundgang mit Fragen an Philippe Müller. 

Wir wollten das Gebäude schon verlassen, als Mila nochmals auf uns zukommt und etwas zu ihrer Geschichte hinzufügen möchte. Sie erzählt, dass das Rückkehrzentrum Enggistein das schlechteste sei, in welchem sie bis jetzt gewesen ist. Es sei weit weg und es gebe quasi nur Baustellen und Pferde in der Nähe. Um Einkaufen zu gehen, müsse sie den ÖV nehmen. Die Bustickets dafür müssen selbst bezahlt werden. Für Erwachsene gibt es im Kanton Bern acht Franken pro Tag, für Kinder weniger.

Gemäss Mila ist es den Kindern im Zentrum oft langweilig. Zudem haben es die Kinder in der Schule in Worb schwer. Während in Biel die Klasse stark durchmischt und multikulturell war, würden in Worb hauptsächlich Schweizer*innen zur Schule gehen. Seitdem ihr Sohn dort zur Schule geht, wurde er verhaltensauffällig und ist immer mal wieder aggressiv, dies sei vorher nie der Fall gewesen. 

Mit einem mulmigen Gefühl verlassen wir das Rückkehrzentrum und sind froh, als wir wieder im Zug nach Bern sitzen. Für uns ist eine solche Zugfahrt alltäglich und selbstverständlich, für die Geflüchteten aus Enggistein aber Luxus.

Zu Hause im Container

Die Sonne geht langsam unter und ein Flugzeug fliegt lautstark über unsere Köpfe hinweg – wir sind vor dem Rückkehrzentrum Rohr in Glattbrugg.

Das Rückkehrzentrum in Zürich wird ebenfalls von der ORS Gruppe geführt und liegt beim Flughafen Zürich, direkt neben dem Zentrum für ausländerrechtliche Administrativhaft.

Ausländerrechtliche Administrativhaft

Die ausländerrechtliche Administrativhaft ist im Vergleich zur Haft im Rahmen des Straf- und Massnahmenvollzugs nicht dazu da, strafbare Handlungen zu sanktionieren. Sie ist dazu da, die Ausreise von Personen ohne Aufenthaltsrecht sicherzustellen.

Der Kanton Zürich, welcher das Zentrum am Flughafen Zürich führt, schreibt: «Eine Person, die aus der Schweiz ausgewiesen wird, muss innert einer bestimmten Frist ausreisen. Wenn sie diese Frist verstreichen lässt oder sich der Wegweisung widersetzt, kann die kantonale Migrationsbehörde Zwangsmassnahmen wie die ausländerrechtliche Administrativhaft anordnen.»

Bild von der Containersiedlung nahe dem Flughafen Zürich.

Die Containersiedlung in Glattbrugg wird von der ORS-Gruppe betrieben. © Liza Mia Stoll

Beim Betreten wird uns von einem Angestellten klargemacht, dass wir keine Bild- und Videoaufnahmen in den Containern machen dürfen. Er meint, Journalismus sei verboten. Wir fragen nach, ob wir einen Freund von uns besuchen dürfen. Der Mann nickt freundlich.

Wir werden von den Bewohnern herzlich empfangen und stellen uns vor. Einer fragt uns direkt, ob wir etwas zu trinken möchten, wir verneinen dankend. Er tischt uns trotzdem lächelnd Orangensaft auf. Wir nehmen auf dem Sofa Platz und machen es uns im Wohnzimmer gemütlich. Neben uns sitzt ein Mann und schaut fern.

Bild von Container in Glattbrugg.

Die Bewohner wohnen teilweise jahrelang im Rückkehrzentrum Rohr. © Liza Mia Stoll

Um die Menschen zu schützen, die in dieser Containersiedlung leben, können wir keine genauen Details zur Einrichtung machen und eventuelle Missstände hervorheben – zu gross war die Sorge der Anwohner, dass ihnen Konsequenzen drohen würden, welche ihr Härtefallgesuch negativ beeinflussen könnte. So viel können wir aber sagen: Im Rückkehrzentrum Rohr leben nur Männer. Es gibt Toiletten, Duschen, eine gemeinsame Küche und einen Waschraum mit Waschmaschinen. Die Männer dürfen teilweise Tätigkeiten nachgehen, die auch entlohnt werden. Vier Stunden Wäsche waschen werden mit 15 Franken entlohnt. Das Reinigen von Toiletten wird mit 8-10 Franken pro Stunde entlohnt. 

Es ist dunkel, Flüchtlingshelfer Christoph Albrecht steht im Container. Menschen kommen zu ihm und lassen sich beraten oder bekommen sogar Geld geschenkt. Mehr zu Christoph Albrecht später.

Ein Anwohner fragt uns, ob wir mit ihm noch zu Abend essen möchten. Christoph Albrecht und ich nehmen das Angebot dankend an, der Rest von uns geht nach Hause. Der Mann tischt uns ein wenig Fleisch und ein mir unbekanntes Reisgericht auf – das Essen schmeckt vorzüglich. Die Umstände hinterlassen aber ein flaues Gefühl im Magen.

Bild von Container mit Fahrrad davor.

Zwei Mal täglich müssen die Bewohner ihre Anwesenheit mit einer Unterschrift bestätigen. © Liza Mia Stoll

Bild von Basketballkorb in Containersiedlung.

Die Beschäftigungsmöglichkeiten sind beschränkt. © Liza Mia Stoll

Im Einsatz für mehr Rechte

Ein paar Tage später sind wir bei Christoph Albrecht zu Hause, er lebt im Hauptsitz der Stiftung Jesuiten Weltweit Schweiz und hat dort auch sein Büro. Er leitet den Jesuiten-Flüchtlingsdienst Schweiz und ist Co-Präsident vom Solinetz Zürich. Das Solinetz ist ein Verein, der sich gemäss seiner Webseite für die Würde und Rechte jener Menschen einsetzt, die aus politischer oder existentieller Not in der Schweiz Zuflucht suchen.

Was sind Jesuiten?

Jesuiten sind eine internationale Ordensgemeinschaft der
römisch-katholischen Kirche, welche weltweit vertreten sind. In ihren Institutionen arbeiten sie zusammen mit Menschen, die sich in der Kirche und Gesellschaft engagieren.

Als Antwort auf das sich ständig verschärfende weltweite Flüchtlingsproblem wurde 1980 der Jesuiten-Flüchtlingsdienst (JRS) gegründet. Seit 2010 ist der JRS auch in der Schweiz tätig.

Christoph Albrecht besucht zweimal pro Woche das Rückkehrzentrum Rohr. Bis vor kurzem organisierte er zudem jeden Dienstag das gemeinsame Treffen «Kochen über den Tellerrand» beim Hegnerhof Kloten, bei dem geflüchtete Menschen für sich und ihre Gäste gekocht haben. Ziel war der Austausch zwischen der klotener Bevölkerung und den Geflüchteten – vor wenigen Wochen wurde das Projekt mangels Nachfrage beendet. 

Für viele der Menschen mit einem negativen Asylentscheid ist Christoph Albrecht ein Symbol der Hoffnung. In einem Gespräch mit uns nannte ein Geflüchteter ihn mal lachend «the godfather».

Unbehandelte Traumas

«Elend» – so beschreibt Christoph Albrecht die Stimmung in den Rückkehrzentren, die er regelmässig besucht.

Christoph Albrecht – Unbehandelte Traumas

Schikanen und Paradoxe

Gemäss Albrecht befinden sich die regulären Illegalen in einer seelisch belastenden und perspektivlosen Situation. Es seien meist hochmotivierte Menschen, die nicht arbeiten dürfen und ständig in Gefahr leben, in eine Polizeikontrolle zu geraten und verhaftet zu werden. Wenn Albrecht über das System der Nothilfe spricht, redet er oft von Schikanen.

«Im Kanton Zürich ist eine dieser Schikanen, dass Menschen ein Bett zugeteilt bekommen in einer dieser Notunterkünfte, neuerdings zum Teil auch in Gemeinden. Dort müssen sie auch präsent sein. Sie müssen beweisen, dass sie von der Nothilfe abhängig sind und dass sie die Nothilfe brauchen – hierfür müssen sie auch dort übernachten. Das heisst, sie müssen jeden Morgen und Abend einen Zettel unterschreiben. Wenn eine Unterschrift fehlt, bekommen sie vom entsprechenden Tag das Tagesgeld nicht. Und wenn sie mehr als eine Woche gar nicht unterschreiben, werden sie von dort abgemeldet und gelten als untergetaucht oder ausgereist.»

Gilt jemand als untergetaucht und war für eine gewisse Zeit nicht in der Schweiz registriert, hat dies Auswirkungen auf ein allfälliges Härtefallgesuch. Um dieses zu bekommen, müssen Geflüchtete mindestens fünf Jahre am Stück in der Schweiz leben. Durch das vermeintliche Untertauchen beginnen die fünf Jahre jedoch wieder von neuem. 

Laut Albrecht gibt es in der schweizer Asylpolitik klare Widersprüche.

Paradoxe im schweizerischen Asylwesen

Gute Erinnerungen an die Schweiz

Für Albrecht ist klar, was sich in Zukunft ändern muss.

Christoph Albrechts Wunsch für die Zukunft

Was sagt das Staatssekretariat für Migration?

Am Ende unserer Recherche kontaktierten wir das SEM und fragten, wie sie die Lage der regulären Illegalen in der Schweiz einschätzen.

Laut dem SEM sind abgewiesene Asylsuchende dazu verpflichtet, die Schweiz zu verlassen. Diese Menschen erfüllen die Flüchtlingseigenschaft nicht, deshalb sei eine Wegweisung möglich, zulässig und zumutbar. Wäre dies nicht der Fall, würden sie trotz fehlender Flüchtlingseigenschaft vorläufig aufgenommen. In persönlichen Härtefällen sehe das Asylrecht bereits heute Ausnahmefälle vor (vgl. Art.14 Abs 2 AsylG). Die geltenden Rechtsgrundlagen würden eine humanitäre und zielführende Lösung für diejenigen Personen ermöglichen, die sich in einer solchen Härtefall-Situation befinden.

Nochmals zurück zu Akil, geflüchtet aus Somalia. Ihm wurde das Härtefallgesuch bewilligt. Er kann arbeiten und in seinen eigenen vier Wänden wohnen. Viele Menschen sind wie er gezwungen, aufgrund von menschenunwürdigen Umständen ihr Heimatland zu verlassen. Menschen, die in die Schweiz flüchten, leben teilweise jahrelang in der Ungewissheit – und ohne richtiges Zuhause. Akil ist kein Einzelfall.

Eine weitere Reportage: Zwischen Stauen und Schützen